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Textauszug: DIE EINSAMKEIT DES ASTRONOMEN
Einmal, Ende Januar, schlug Ellen vor, Ski zu fahren.
- Solltest du denn jetzt Ski fahren?, fragte ich mit Rücksicht auf ihre Schwangerschaft.
Sie erklärte: Ich fahre Ski, wie andere spazierengehen. Mach dir keine Gedanken.
Der Morgen, als wir uns in ihren Wagen setzten und losgefahren sind: Himmel und Erde im Wettstreit um höchsten Glanz und Reinheit. Lichtfäden, die sich zwischen den verschneiten Tannen verfangen, als wäre der Winter ein Webrahmen.
Wir hatten zwei Zimmer in einem Hotel gebucht, eins für uns und eins für Ellens Söhne Sven und Moritz, um die wir uns nicht zu kümmern brauchten, weil sie dort praktisch zu Hause waren, wie sie sagte.
Irgendwann standen wir zusammengepfercht mit sechzig oder siebzig Skifahrern in der Seilbahnkabine und wurden gegeneinander gepreßt. Ellen mit einer jener Sonnenbrillen, wie sie zum Skifahren derzeit in Mode sind, um den Kopf herum bis zu den Schläfen gebogen und goldbraun verspiegelt; statt ihrer Augen sah ich nur mich. Jedoch: Ihr Körper, irgendwo hinter dem Gewebehorizont aus Pullovern, Schals und Thermojacken. Und auf einmal fühlte ich mich wohl, trotz des indiskutablen Gedränges.
Sie fuhr (sie fährt) perfekt.
Genaugenommen ist Skifahren ein Dialog mit den Naturgesetzen. Der Winkel zum Gefälle als Steuerungsgröße für den in Fahrtrichtung wirkenden Betrag der Gravitationskraft. Dann die Gewichtsverlagerung zur Kurvenfahrt: Belastung des Außenskis, damit dieser sich durchbiegt. Die gekrümmten Kanten, die einen Bogen in den Schnee schneiden. Und schließlich: Reibungswiderstand und Kurvenradius als weitere Steuerungselemente zur Kontrolle der Abfahrtsgeschwindigkeit.
Alles in allem keine Hexerei, sage ich mir immer.
Ellens Fahrt auf dem weißen Hang: ein virtuoses Gleiten durch den Raum der wirkenden Kräfte, fließend und rhythmisch, als würde sie in einer unsichtbaren, leicht schaukelnden Sänfte hinabgetragen. Die Mühelosigkeit ihres Stils: Alle Energie, die sie zum Fahren brauchte, spendete ihr die Physik. Sie jonglierte mit einer Handvoll von Gleichungen, ohne je eine gelöst zu haben.
Ich war noch kaum Skigefahren bisher, zwei- oder dreimal vielleicht. Ellen winkte mir mit einem ihrer Skistöcke zu, der innerhalb von Sekunden so klein geworden war wie ein Streichholz. Die klare Luft und das blendende Weiß des Hangs. Alles, was zwischen uns stand, war das unsichtbare Netz der Naturgesetze.
Ich dachte: Es ist alles Physik! - und stieß mich ab.
Mein Fahrt war eine Katastrophe. Alles, was ich zuwege brachte, war hölzerne Sturzvermeidung, ein verzweifeltes Ankämpfen gegen die nackte Beschleunigung. Niedergeschlagen und mit schmerzenden Knien kam ich bei Ellen an.
Ihre Bemerkung, für jemanden, der noch kaum auf Skiern gestanden habe, hätte ich mich gar nicht so schlecht geschlagen. Ich bedankte mich, auch wenn jedes Lob bei einem derartigen Abstand der Fähigkeiten nur pflichtschuldige Höflichkeit ist. Dann segelte sie wieder davon, sich wiegend auf der sanften Dünung der Gravitation. Und ich sah: Das Leben in ihrem Leib war wohlbehütet.
Mittags saßen wir im Freien auf der Terrasse einer der Berghütten und tranken Wein. Ich trank auch, weil ich dachte, daß es keine Rolle spielte, entweder würde ich den Tag ohne Knochenbrüche überstehen oder nicht. Aber Ellen hielt sich zurück, wie ich irgendwann feststellte, und ich gewann sogar den Eindruck, daß sie das Glas nur gelegentlich an die Lippen führte, um mir nicht das Gefühl zu geben, allein zu trinken. Sonst war ich es, der nicht trank, und jetzt sie - und auf einmal wünschte ich mir, all das wäre nicht so kompliziert.
Die Farben dort oben: Ellen mit ihrer goldbraun verspiegelten Sonnenbrille und ihren dunklen, vom Fahrtwind versponnenen Haaren. Dann die Menschen um uns herum, leuchtend und plastisch, als betrachte man die Welt in einem riesigen polierten Spiegel. Und über allem der Geruch des in der Mittagssonne schmelzenden Schnees.
Nachmittags zogen von Südwesten her Wolken heran, und alle Konturen und Kontraste verschwammen in einem einheitlichen Weiß. Für Ellen kein Thema: Sie durchfuhr den Lichtbrei ebenso elegant wie vorher den Sonnenglast.
Im Grunde war es auch für mich kein Thema: Ich konnte nicht noch schlechter fahren. Einmal stürzte ich kurz vor der Station eines Schlepplifts. Es war mir unangenehm, vor Ellen so zu versagen. Außerdem gelang es mir danach nicht mehr, den rechten Ski anzuziehen, weil die Bindung nicht mehr einrasten wollte. Ellen klopfte den Schnee von meinen Schuhsohlen, was aber nicht half, die Bindungsmechanik war hinüber.
Schließlich sagte sie: Du wirst auf einem Ski weiterfahren müssen.
- Sehr komisch, kommentierte ich ihren Vorschlag.
Um zurück ins Dorf zu kommen, mußten wir auf irgendeine Weise wieder nach oben.
- Du kannst dich im Lift auf meine Skier stellen, sagte sie. Wir fahren dann zu zweit hoch.
- Geht das denn?
- Als Kinder haben wir's oft so gemacht. Einfach zum Vergnügen.
Was blieb mir schon übrig?
- Wenn ich in der Spur stehe, muß es schnell gehen, instruierte sie mich.
Ich habe Schlepplifte immer sonderbar gefunden: Man hängt wie ein Fisch am Haken und läßt sich nach oben ziehen.
Schließlich waren wir an der Reihe. Ellen stellte sich in die Liftbahn, und ich versuchte, meine schweren Schuhe auf ihren Skiern zu plazieren. Als ich einigermaßen stand, umfaßte sie mich von hinten mit dem rechten Arm, fing mit dem linken den Bügel, und wir ruckten vorwärts. Mein Körper wurde durch die Beschleunigung gegen ihren gepreßt, und ich hatte Angst, sie zu erdrücken. Doch immerhin: Es funktionierte.
Ihre Stimme, so nah an meinem Ohr, als sie sagte: Siehst du, es geht! Aber mach dich nicht so steif wie ein Brett. Du mußt dich entspannen. Das Geheimnis ist: Man fährt mit dem Körper Ski und nicht mit dem Kopf. Wenn du es kannst, ist es wunderbar. Du läßt dich fallen, und doch stürzt du nicht. Beim Skifahren ist alles anders. Auf einmal bist du nur noch du selbst. Oder niemand mehr. Du bist einfach frei!
Ich nickte und versuchte, locker zu sein.
- Liebst du mich?, flüsterte sie in mein Ohr.
- Ich liebe dich, sagte ich in die weiße, kalt gewordene Luft hinein, weil ich es nicht wagte, mich umzudrehen.
Auf dem letzten Stück, dem steilsten, brach unsere fragile Transportkonstruktion zusammen. Ich rutschte zur Seite weg, und auf einmal lagen wir nebeneinander im Schnee. Wir lachten, weil es komisch war, dort zu liegen, so kurz vor dem Ziel. Vielleicht lachten wir auch, weil in diesen Sekunden alles andere keine Rolle spielte und dieser kleine Unfall etwas wirklich Gemeinsames war. Wir lachten, weil wir wußten, daß wir diese Sekunden nicht mehr vergessen würden; wir hatten sie aus der Vergänglichkeit befreit. Und über uns brach die Wintersonne durch die weißen Wolken, blaß wie Wachs und wunderschön.
Im Hotelzimmer froren wir, weil der in unsere Kleidung gedrungene Schnee geschmolzen war. Ellen duschte, daß es dampfte. Danach kam sie in ein Handtuch gewickelt ins Zimmer, und ich umarmte sie, weil ich mich ihr nah fühlte. Doch dann spürte ich, daß sie weinte.
Natürlich wußte ich, warum.
Ich sagte: Ich will das Kind.
Sie schüttelte den Kopf: Das geht doch nicht.
Ich sagte: Wir finden einen Weg.
- Hör doch auf, Frank, sagte sie. Es gibt keinen Weg. Hör auf, über Wege nachzudenken, sondern bleib hier oder geh. Worauf wartest du denn? Was wird sich in einer Woche denn geändert haben, in einem Monat, in einem Jahr? Ich will nicht mehr nachdenken. Wir sind zu alt. Wir haben keine Zeit mehr zum Nachdenken.
Sie sprach leise, ohne sich aus meiner Umarmung zu lösen. Wir standen dort in der Mitte des Hotelzimmers, müde vom Tag. Draußen hatte es begonnen zu schneien. Und auf einmal kam es mir vor, als drehte sich mein Leben im Kreis.